Stadtgeschwindigkeit

Tempo 30 auf Hauptachsen - Kriterien und methodische Anwendung

5. September 2024 | Christian Hasler

In der Stadt St.Gallen wurden bisher (Stand Juli 2024) 75 Tempo-30-Zonen, 5 Tempo-30-Strecken sowie 10 Erweiterungen der Tempo-30-Zonen auf verkehrsorientierte Strassen realisiert. Auf dem Stadtgebiet sind zudem 37 Begegnungszonen sowie eine Fussgängerzone vorhanden. Bis vor einigen Jahren war die Thematik «Tieftempo» vor allem in der Altstadt und auf Quartierstrassen relevant. Im Zusammenhang mit Lärmsanierungsprojekten sowie zur Steigerung der Quartierverträglichkeit und zur Ausgestaltung von Strassen- zu Lebensräumen werden Geschwindigkeitsreduktionen nun auch vermehrt auch auf dem übergeordneten Stadtstrassennetz, geprüft und eingeführt.

Bildlegende: Tiefbauamt St. Gallen

Grundsätzliche Beurteilung von Tieftempo auf Hauptachsen

Die Einführung von Tieftempo auf Hauptachsen hat zum Ziel die Verkehrssicherheit zu verbessern und den  Lärm zu reduzieren. Nachfolgend werden mögliche Vorteile respektive Chancen aber auch mögliche Nachteile respektive Risiken aufgezeigt. Die Zusammenstellung ist nicht abschliessend. Je nach Ausprägung können sich Vorteile gegenseitig aufheben oder sie weisen positive Synergien auf.

+ Reduktion Lärmbelastung
Eine Reduktion der signalisierten Geschwindigkeit führt in der der Regel zu einer geringeren Lärmbelastung. Die effektiven Auswirkungen sind dabei von der gefahrenen Geschwindigkeit, der Strassensteigung und der Verkehrszusammensetzung abhängig.

+ Erhöhung Verkehrssicherheit
Niedrige Geschwindigkeiten können die Verkehrssicherheit erhöhen. Sie führen zu weniger Unfällen mit weniger gravierenden Unfallfolgen und verbessern in der Regel die Situation für den Fuss- und Veloverkehr.

+ Verbesserung Verkehrsablauf in Zentrumsbereichen
Tiefere Geschwindigkeiten führen nicht per se zu einer niedrigeren Leistungsfähigkeit der Strasse, da die Knotenleistungsfähigkeit massgebend ist. In Zentrumsbereichen mit vielen querenden Fussgängerinnen und Fussgängern, kann mit einer Temporeduktion der Verkehrsablauf in Spitzenstunden sogar verbessert werden.

+ Fussgängerquerungen
In Orts- und Quartierzentren kann die Temporeduktion die Trennwirkung der Fahrbahn reduzieren und
das Queren der Strasse vereinfachen.

+ Aufwertung Strassenraum
Geringere Knotensichtweiten an Kreuzungen und Grundstückszufahrten vereinfachen die Integration von strassenbegleitenden Baumpflanzungen, welche einen positiven Einfluss auf das Stadtklima haben.

+ Koexistenz im Strassenraum
Dank niedrigen Geschwindigkeiten werden die Koexistenz der verschiedenen Verkehrsteilnehmenden erhöht und das Miteinander sowie die gegenseitige Rücksichtnahme gestärkt.

+ Lebensraum: Wohnen, Arbeiten und Aufenthalt entlang der Hauptachsen
Eine Geschwindigkeitsreduktion entlang der Hauptachsen eröffnet Chancen bezüglich der Nutzung und Ausgestaltung des Strassenraums. Die Aufenthaltsqualität des Strassenraums kann gesteigert, publikumsbezogene Nutzungen in angrenzenden Erdgeschossen können ermöglicht und letztendlich Wohnen / Arbeiten entlang der Hauptachsen kann attraktiver werden.

- Widerspruch zur selbsterklärenden Strasse
Selbsterklärende Strassen zeichnen sich dadurch aus, dass alle Verkehrsteilnehmenden anhand des Erscheinungsbilds der Strasse eindeutig erkennen können, welches Verhalten angemessen ist. Je nach Erscheinungsbild des Strassenraums (stark verkehrsorientierte Gestaltung, z.B. im Extremfall vierspurige Strasse mit Überkopf-Lichtsignalanlage) entspricht eine temporeduzierte Strecke nicht dem erwarteten Temporegime. Infolge mangelnder Akzeptanz kann dies die Verkehrssicherheit beeinträchtigen.

- Verlustzeiten ÖV
Je nach Situation (Streckenlänge, Haltestellenabstände), kann die Einführung einer Temporeduktion negative Auswirkungen auf die Reisezeiten des Öffentlichen Verkehrs (ÖV) haben. Wenn die Zeitverluste zu hoch werden, kann dies unter Umständen den Einsatz eines zusätzlichen Fahrzeugs und damit einen finanziellen Mehraufwand für die öffentliche Hand bedeuten.

- Verlustzeiten MIV
Je nach Situation (Streckenlänge, Vortrittsregime) kann die Einführung zu einer Reisezeiterhöhung des motorisierten Individualverkehrs führen.

- Verkehrsverlagerung aufs untergeordnete Netz
In Spitzenstunden wird eine Temporeduktion in vielen Fällen kaum Auswirkungen bezüglich Verkehrsverlagerung haben, da die gefahrenen Geschwindigkeiten in städtischen Verhältnissen, infolge starker Auslastung des Strassennetzes, bereits im Ausgangszustand tief sind. In Nebenverkehrszeiten besteht unter Umständen ein gewisses Risiko von Ausweichverkehr auf untergeordnete Strassen. Dies würde die Hierarchie des Strassennetzes untergraben (Kanalisierung des Verkehrs auf den Hauptverkehrsstrassen).

- Verständlichkeit Vortrittsregime
Tieftempokonzepte weisen unterschiedliche Vortrittsregimes auf, die insbesondere für den Fuss- und Veloverkehr wesentlich sind, und zu Unsicherheiten führen können. In T30-Zonen und -Strecken haben Fussgänger auf der Fahrbahn keinen Vortritt und Fussgängerstreifen werden nur sehr beschränkt zugelassen; auch der Rechtsvortritt gilt nur zwingend bei Zonensignalisation. In geschachtelten Zonensignalisationen (mit Begegnungszonen) kann dies zu Verständnisproblemen und Unsicherheiten führen.

Tieftempokonzept auf Hauptachsen in der Stadt St.Gallen

Im Zusammenhang mit Lärmsanierungsprojekten bei Kantonsstrassen und Gemeindestrassen ist die Frage von Tempo-Reduktionen ein zentrales Thema. Um zu vermeiden, dass mögliche Temporeduktionen auf Hauptachsen einzelfallweise auf Projektebene geprüft werden, ist ein der Projektebene vorgelagertes Gesamtkonzept notwendig. Daher wurde im Jahre 2020 von Kanton und Stadt St.Gallen ein entsprechendes «Tieftempokonzept auf Hauptachsen» gestartet.

Da sich Temporeduktionen im Spannungsfeld der unterschiedlichsten Ansprüche befinden, wurde im Konzept eine Gesamtbetrachtung (Gesamtheit der Ansprüche) vorgenommen. Dabei wurden eine Netzbetrachtung und die Beurteilung anhand aller relevanten Kriterien vorgenommen. Im September 2022 nahm die kantonale Regierung und der Stadtrat das «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» zur Kenntnis. Anschliessend wurde zu diesem Konzept eine Vernehmlassung durchgeführt. Die Rückmeldungen aus der Vernehmlassung zeigten das verkehrspolitische Spektrum von genereller Zustimmung bis zur generellen Ablehnung des Konzepts. Die Umsetzung von Tempo 30 auf der übergeordneten Ost-West-Achse war in der Vernehmlassung sehr umstritten und stiess teilweise auf heftigen Widerstand. Mit Beschluss vom 4. Juli 2023 entschied die Regierung auf die Einführung von Tempo 30 auf der Ost-West-Hauptverkehrsachse in der Stadt St.Gallen (Zürcher Strasse–Rosenbergstrasse–Unterer Graben–Torstrasse–Rorschacher Strasse) zu verzichten. Mit dieser Rahmenbedingung wurde das Konzept überprüft und die Folgen aufgezeigt.

Im Kantonsrat wurden auch entsprechende parlamentarische Vorstösse eingereicht. Schlussendlich hat die Kantonsregierung am 7. Mai 2024 entschieden, dass auf Kantonsstrassen Tempo 30 nicht aus Lärmschutzgründen vorzusehen ist und auch nur in Ausnahmefällen aus Sicherheitsgründen zu bewilligen ist. Der Stadtrat erachtet Temporeduktionen als wichtigen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung vor Strassenlärm und zur Steigerung der Verkehrssicherheit und Lebensqualität. Er wird auf den Gemeindestrassen das Thema der Geschwindigkeitsreduktion vorantreiben.

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